 |
Die Privatisierung des Unglücks
Mein Diskussionsbeitrag ist eher religiöser Natur, er
handelt von einer neuen Religion, einer äußerst erfolgreichen.
Die alte Religion in diesem Lande, die christlich-katholische,
gerät zunehmend ins Hintertreffen. Sie muss, um im Religions-
Ranking nicht völlig abzustürzen, immer neue Events,
wie beispielsweise "Die lange Nacht der Kirchen", oder
Skandale produzieren, wie jenen in St. Pölten. Wenn
Manfred Deix zwei Monate lang keinen Priester beim Zungenkuss
mit einem Alumnen zeichnet, -gerät sie beinahe in Vergessenheit.
Nicht so die neue Religion. Ihre Geschichte gleicht
in den letzten Jahren einem einzigen Triumphzug. Der
Beginn dieser Entwicklung lässt sich historisch einigermaßen
genau datieren: Er fällt zusammen mit dem Untergang
der sozialistischen Länder, des Sozialismus schlechthin.
Bis zu diesem Zeitpunkt war diese neue Religion, von
der ich hier rede, noch keine solche, sondern eine politische
und vor allem wirtschaftliche Ideologie. Sie stand mit
der sozialistischen Ideologie im Wettstreit, und es
ist das Wesen eines Wettstreits, dass man Argumente
vorbringen muss. Ich weine den sozialistischen Ländern
hiermit eine Träne nach, denn wenn sie zu nichts anderem
gut waren, dann waren sie es zu dem einen: Sie zwangen
die kapitalistische Ideologie zum Argument, sie hinderten
sie an der unwidersprochenen Verkündigung. Seit diese
Auseinandersetzung eindeutig zugunsten der kapitalistischen
Ideologie ausgegangen ist, hörte diese auf, eine solche
zu sein, und wurde zur allein selig machenden Religion.
Sie argumentierte nicht mehr, sie dogmatisierte, sie
verkündete. Das oberste Dogma, sozusagen der erste Verkündigungssatz
dieser neuen Religion lautet: "Geht es der Wirtschaft
gut, geht es allen gut." Dieser Glaubenssatz wird vom
ORF, einer Art Ashram der neuen Religion, tagtäglich
verkündet. Der erste Teil dieses Konditionalsatzes ist
ja auch wahr. Der Wirtschaft - oder genauer gesagt:
ihren führenden Betreibern - geht es gut. Mit der Erhebung
dieser neuen Religion zur Staatsreligion unter Wolfgang
Schüssel lässt sich dieses Wohlbefinden in Zahlen ausdrücken:
In den letzten zehn Jahren sind die Gagen der Manager
um mehr als das Hundertfache im Vergleich zu den Mindestlöhnen
von Arbeitern oder gar Arbeiterinnen gestiegen. Diese
Steigerung stellt nicht die Ausnahme, sie stellt die
Regel dar. Solche Gagen werden bezahlt, weil die Gewinne
der Firmeneigner in noch wesentlich größerem Maße gestiegen
sind. 80 Prozent des Aktienkapitals befinden sich in
Österreich derzeit in der Hand von zwölf Familien. Immer
mehr Grundbesitz sammelt sich in der Hand von immer
wenigeren an. 66.000 Mitglieder zählt in Österreich
derzeit der Klub der Auserwählten, der vielfachen Euromillionäre.
Der allseits bekannte Satz "Die Reichen werden immer
reicher" lässt sich nur noch durch ein Eigenschaftswort
aus der Sportsprache erweitern: Sie werden es immer
rasanter. Der zweite Teil des Verkündigungssatzes "Geht
es der Wirtschaft gut, geht es allen gut", also die
Feststellung, dass das Wohlbefinden von wenigen zum
Wohlergehen aller führt, ist schlicht und einfach unwahr.
Der Anteil der Löhne von Arbeitern und Arbeiterinnen
am Volkseinkommen ist in den letzten zehn Jahren von
71 auf 58 Prozent gesunken. Laut jüngster Statistik
gibt es in Österreich 475.000 Menschen, die von akuter
Armut betroffen sind. Ihre Zahl ist in den letzten drei
Jahren nicht kontinuierlich gestiegen, in gleichen Prozentsätzen,
sondern dramatisch. Also rasant. Ich finde es interessant,
darüber nachzudenken, wie ein unwahrer Satz, den man
bestenfalls als ideologische Zweckbehauptung qualifizieren
kann, es schaffen konnte, sich in die Sphäre der unwidersprechbaren
Verkündigung zu erheben. Warum glauben so viele Menschen
an diese Lüge? Wenn Sprache Bewusstsein schafft, dann
schafft die Reduzierung von Sprache ein reduziertes
Bewusstsein. Ist Ihnen aufgefallen, wie nachhaltig das
Wort "Arbeiterklasse" aus unserem Sprachgebrauch verschwunden
ist? Und mit dem Wort sind auch die Menschen, die es
bezeichnet, verschwunden. Ihre Forderungen, ihre Nöte
interessieren nicht mehr. Man will nichts mehr von ihnen
wissen, es sei denn, das Abflussrohr ist verstopft oder
die Wohnung soll billig renoviert werden. Die Arbeiter
sind in den letzten Jahren ununterbrochen verdächtigt
worden: der Faulenzerei, der Lohntreiberei, der Sozialschmarotzerei.
Heute macht in vielen Betrieben die halbe Belegschaft
die doppelte Arbeit, für weniger Geld. Dies war das
Ziel und ist das Ergebnis einer über Jahre gehenden
sprachlichen Denunzierung. - Ein paar Sätze, die ich
in den letzten Tagen in der Umgebung von Salzburg aufgeschnappt
habe, die man gleichwohl überall zu hören bekommen könnte:
"Keiner will etwas leisten, alle wollen nur verdienen";
"Heutzutage fährt ja schon jeder Prolet einen Mercedes";
"Das Personal wird immer frecher"; oder wie es Herr
Andreas Kohl, ein hoher Würdenträger der neuen Religion,
mit zwei Worten so trefflich auf den Punkt gebracht
hat: "Rote Gfrießer." Da ist der Satz vom Ungeziefer,
das man vertilgen muss, nicht mehr weit. Selbstverständlich
gibt es die Ausnahme von der Regel: Ab und zu hört man
von einer Putzfrau, die einer Perle gleiche, oder von
einem besonders tüchtigen Polen, der für wenige Euro
Tag und Nacht schufte. Auch die Nazis hatten ihren sympathischen
Juden. Die österreichische Sozialdemokratie weiß um
die Irrationalität, um die Unmenschlichkeit dieser neuen
Religion Bescheid. Sie verhält sich wie ein Familienmitglied,
welches beim Familientreffen bestimmte Dinge lieber
nicht sagt, um den Familienfrieden nicht zu stören.
Gut erzogen lächeln die österreichischen Sozialdemokraten
in den gemischten Gremien vor sich hin und werden erst
wieder rabiat, wenn sie unter ihresgleichen sind. Die
neue Religion verfügt nicht nur über Dogmen, sie verfügt
selbstverständlich auch über Gebote. Die wichtigsten
heißen "Sei mobil!" und "Sei flexibel!". Wer ihnen nicht
nachkommen kann oder will, ist ein Sünder und soll sich
schuldig fühlen. Darum geht es dieser Religion, wie
allen Religionen: um Schuld und Schuldgefühle. Wer ein
Lohnempfänger ist, musste sich in den letzten Jahren
als Dauersünder empfinden und ständig Schuldgefühle
haben, denn er war ein Verursacher von Lohnnebenkosten.
Dieses Wort hat einen eindeutigen Inhalt bekommen: Lohnnebenkosten
sind etwas Übles, für die Unternehmer Unzumutbares,
dringend zu Reduzierendes. Wenn dies nicht alsbald geschieht,
werden wir alle im Unglück enden. Ununterbrochen höre
ich das Wort "Lohnnebenkosten", lese in der Zeitung
Vorschläge zu ihrer Verminderung, zu ihrer nachhaltigen
Senkung. Das Haupt des Lohnempfängers und Lohnnebenkostenverursachers
senkt sich mit. Das ist die tägliche Verkündigung zur
Vermehrung der Schuldgefühle, und auch sie erfolgt über
die Sprache der Denunziation. Worüber Sprachlosigkeit
herrscht, wovon ich nichts oder nur höchst selten lese,
das sind die Gewinn-Nebenver¬schiebungen von jenen Millionen
und Milliarden, welche größere Unternehmungen an der
Versteuerung vorbei ins Ausland verschieben. Das sind,
nach sehr vorsichtigen Schätzungen, jährlich fünf Milliarden
Euro, nach alter Währung zirka 70 Milliarden Schilling.
Aber auch Gewinne, die deklariert werden, werden von
Großunternehmungen, von Konzernen, nicht versteuert.
So beziffert (inoffiziell) eines der größten Wiener
Finanzämter den Stand seiner uneinbringlichen Forderungen
auf zehn Milliarden Euro. Auf meine Frage, warum es
hier keine gerichtliche Verfolgung gibt, bekomme ich
die (inoffizielle) Antwort, die Akten würden "nach oben"
gehen und dort entschwinden. Dieser liturgische Vorgang
ist nicht Teil der Verkündigung. Ein weiterer Verkündigungssatz
im Dogmenrang lautet: "Weniger Staat, mehr privat."
Er bedeutet im Klartext, dass der Staat sich in die
Gaunereien, in die Gesetzesbrüche der Wirtschaft möglichst
wenig einmischen soll, damit die Bevorteiligten zu noch
größeren Vorteilen kommen, und dass die Benachteiligten
ihr Nachsehen, ihr Unglück für selbst verschuldet, für
etwas Privates halten sollen. Diese Leistung der neuen
Religion, das Unglück zu privatisieren, wenige zu erhöhen
und viele zu erniedrigen und die vielen dafür auch noch
zahlen zu lassen, ist tatsächlich historisch herausragend.
Ich kenne nur einen vergleichbaren Fall in der Geschichte:
den Ablasshandel von Papst Leo X. Er bereicherte sich
und seinen Hofstaat über die Maßen und redete den Gläubigen
ein, sie seien allesamt Sünder und könnten sich bei
ihm von ihren Sünden loskaufen. Da hat die neue Religion
bei der alten eine gelungene Anleihe genommen. Ein jüngeres
Beispiel für eine weitere Anleihe habe ich vor Kurzem
im "Kurier" gefunden. Ein Journalist fragt den Finanzminister
Karl-Heinz Grasser, was denn aus der Idee geworden sei,
die Sozialleistungen für Reiche zu streichen, und bekommt
darauf die Antwort: Das sei nach wie vor eine Idee,
aber keine aktuelle. Der Minister verwies auf das Hinkünftige,
im Diesseits wohl nicht mehr Realisierbare, also auf
das Jenseitige. Die neue Religion frisst ihre Kinder,
auch diejenigen, welche den Geboten Folge leisten wollen:
Wer effizient, firmentreu, mobil und flexibel sein möchte,
selbst wer bereit ist, Lohneinbußen und unbezahlte Überstunden
auf sich zu nehmen, hat noch lange keinen Garantieschein
für einen Arbeitsplatz. Ich will Ihnen nicht die steigenden
Arbeitslosenzahlen - die rasant steigenden - vorsagen,
die meisten von Ihnen kennen sie. Ich will Ihnen nur
eine Erfahrung wiedergeben aus dem nördlichen Weinviertel,
jener Gegend, aus der ich komme. Dort braucht man ja
schon die Protektion eines Landtagsabgeordneten, um
einem jungen Menschen zu einer Lehrstelle bei einem
Installateur oder in einem Büro zu verhelfen. Die neue
Religion, die zutiefst heidnisch ist, frisst nicht nur
ihre Kinder, sie frisst auch ihre Priester. Herr Veit
Schalle, ein Hohepriester dieser Religion, von dem man
fast jede Woche hören oder lesen konnte, dass unbedingt
wieder tausend oder mehr Menschen zu entlassen sind,
ist, so lese ich gerade, selbst überflüssig geworden.
Mein Kollege Robert Menasse, ein begnadeter Polemiker
vor dem Herrn - um es in der Sprache meiner Wortmeldung
auszudrücken -, hat mit seiner Salzburger Rede einen
wunden Punkt getroffen. Das hat man am Aufschrei gemerkt,
der ihm entgegenschallte. Er appellierte an die Vernunft
der Mächtigen, indem er ihnen vorhielt, dass auch ihre
Kinder und Kindeskinder in diese zerstörerische Maschine
geraten könnten, dass sie die Zukunft verderben würden,
und ich füge hinzu: dass sie von den Warenbergen, die
sie produzieren, verschüttet werden könnten, weil immer
mehr Leute immer weniger Geld haben, um diese zu kaufen.
Ich glaube nicht, dass es sich um ein Problem der Vernunft
handelt. Ich glaube vielmehr, dass dieser neuen, heidnischen
Religion ein großes Maß an Todessehnsucht, an Vernichtungswut
innewohnt, und damit befindet sie sich in einer großen,
abendländischen Tradition, aus der eines zu lernen war:
Was man vernichtet, kann man notfalls in veränderter
und profitabler Form wieder auferstehen lassen. - Seit
die nordamerikanischen Indianer hinlänglich ausgerottet
sind, nehmen die Schamanenseminare extrem zu. Seit unser
Essen vergiftet ist, gibt es immer mehr Bioläden. Mozart
musste aus dieser Stadt vertrieben werden, damit man
auf die Idee kommen konnte, alle seine Opern hintereinander
aufzuführen. Demnächst wird es in dieser Stadt neben
Mozartkugeln auch Bernhardkugeln geben. Sie werden nur
etwas bitterer im Geschmack sein. Es ist der Tod, es
ist die Auslöschung, es ist die Vernichtung, welche
heutzutage die größte Magie ausüben, in der Politik,
in den Nachrichten, im Film, im Theater. Jede Epoche
wird an ihren Obsessionen erkennbar. War die Atombombe
der Kultgegenstand der vierziger Jahre, der Mixer jener
der fünfziger, die Fernbedienung jener der achtziger
Jahre, so ist es heute die Leiche, der fertig gemachte
und ausgesonderte Mensch. In dieser Haltung bekommt
die allerneueste Religion Konkurrenz von einer sehr
alten, von einer Gruppe wahnsinnig gewordener Islamisten,
die ebenfalls nur auf Auslöschung fixiert ist. Denen
winken 60 Jungfrauen im Jenseits, den hiesigen die Senkung
der Lohnnebenkosten. Mit meiner vorherigen Bemerkung
über die .Mozart- und Bernhardkugeln bin ich endlich
dort angelangt, wo ich gerade bin: in Salzburg, bei
den Salzburger Festspielen. Die Salzburger Festspiele
sind - in ihrem Erscheinungsbild und unabhängig von
der Qualität der künstlerischen Darbietungen - ein Hochamt
der neuen Religion. Sie sind eine Textil-, Tuttl- und
Talmishow der Gebenedeiten, und ich habe dagegen nichts
einzuwenden. Jeder kann feiern, wie er will. Ich bitte
Sie nur zu bedenken, dass das heurige Motto der Salzburger
Festspiele, nämlich "Wir, die Barbaren", keine philosophische
Metapher ist, sondern eine Tatsachenmitteilung. Die
Zahlen und Fakten, die ich genannt. habe, stammen vorwiegend
aus Veröffentlichungen der Caritas und der Diakonie.
Seit die christliche Religion mit der neuesten Religion
nicht mehr so mithalten kann, vor allem, seit einige
ihrer Teilorganisationen die Frage nach der Gerechtigkeit
nicht mehr ins Jenseits verschieben, sondern ins Diesseitige
herunterholen, hat sie zunehmend meine Sympathie.
|